Mehr als 100 000 Besucher:innen betreten 1966 im Moderna Museet in Stockholm das Innere der sechs Tonnen schweren und ca. 25 Meter langen begehbaren monumentalen Plastik »Hon« (schwedisch für »sie«). Eine stilisierte liegende Frau, deren Eingang für den Menschenstrom sich zwischen den Schenkeln befindet: »Die größte Hure der Welt«, nannte sie ihre Schöpferin Niki de Saint Phalle. In einem fiktiven Brief an Clarice Rivers beschreibt die Künstlerin: »Die liegende Nana war schwanger, und über eine Reihe von Treppen gelangte man zu einer Terrasse auf ihrem Bauch, von der man einen Panoramablick auf ankommende Besucher und die fröhlich bunten Beine hatte. Es gab nichts Pornographisches an Hon, auch wenn sie durch ihr Geschlechtsteil betreten wurde.« Die Geburtenrate in Stockholm sei nach der Ausstellung signifikant angestiegen und die Künstlerin erreicht mit dieser populär-skandalösen Idee der »Göttin HON« ihren internationalen Durchbruch. Das Modell, die Planskizze und die umfangreiche Dokumentation dieses Projekts sind in der aktuellen Retrospektive Niki de Saint Phalle im Kunsthaus Zürich zu sehen und ab Februar 2023 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt – eine Ausstellung, die alle künstlerischen Phasen der facettenreichen Künstlerin mit charakteristischen Arbeiten präsentiert.
» Das Werk von Niki de Saint Phalle erschließt sich für mich eindrucksvoll über ihre Biografie. Als Autodidaktin macht sie durch ihre Kunst in erster Linie eine sehr persönliche Aussage über sich selbst. Die enge Verbindung zwischen ihrem unsteten Leben und ihrer Selbstständigkeit als Persönlichkeit führt sie immer wieder in die Kunst hinein«, erklärt uns Christoph Becker, der Kurator dieser Ausstellung und scheidende Direktor des Kunsthaus Zürich. Ihr Gesamtwerk ist überraschend facettenreich – exzentrisch, emotional, düster und brutal, humorvoll, hintergründig und immer wieder herausfordernd. Das überaus breite Spektrum ihrer Tätigkeit zeigt sich in Malerei und Zeichnung, in den Assemblagen, Aktionen und großformatigen Skulpturen, aber auch im Theater, im Film und in der Architektur. Ihr OEuvre oszilliert zwischen großer, einladender Geste – wie in »Nana Mosaïque Noire« (1999), die mit schillernden Spiegelstücken und leuchtender Keramik verziert ist – und introvertierter Detailverliebtheit, wie in »L’accouchement rose« (1964), das eine Gebärende mit beinahe monsterhaften Zügen darstellt.
1930 wurde die Künstlerin als Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle in Paris geboren. Ihr Vater, ein Banker, entstammte einem alten französischen Adelsgeschlecht. Sie wuchs in New York auf, arbeitete als Fotomodell, heiratete früh den amerikanischen Schriftsteller Harry Mathews und ging mit ihm nach Frankreich. »Ihre Kindheit war geprägt von einem zwiespältigen, von Phasen gegenseitiger Vorwürfe bestimmten Verhältnis zu ihrer Mutter und einem geradezu katastrophal zerrütteten zu ihrem Vater, dessen sexuelle Übergriffe sie als Erwachsene in autobiografischen Texten in Briefform thematisierte« , erzählt Christoph Becker. Mit 23 Jahren erleidet Saint Phalle einen Nervenzusammenbruch und wird in Nizza stationär behandelt. Zurück in Paris beginnt sie zu malen, fertigt erste Assemblagen an, trennt sich von Mathews und lernt Jean Tinguely kennen. Die Kunst wird in dieser Zeit zum Ventil ihrer Verzweiflung und zum »Antrieb einer durch und durch künstlerischen Persönlichkeit. Ihre Kreativität kennt keine Grenzen. Ihr kämpferischer Geist ist stets auf der Suche nach Neuem«, so der Kurator.
Es scheint, als verarbeite sie in ihren Bildern die Wut gegen ihren Vater und ihre Mutter. Sie füllt alte Büchsen mit Farbbeuteln, montiert alles auf ein Holzbrett, übergießt die Assemblagen und Reliefs mit Gips, nimmt ein Gewehr und schießt, bis die Farbe aus den Einschusslöchern tropft und das Bild »blutet«. 1961 veranstaltet sie die erste einer Reihe von Schießaktionen und wird Mitglied der Gruppe der »Nouveaux Réalistes« – als einzige Frau. Künstler wie der spanische Baumeister Antoni Gaudí, Jackson Pollock, Robert Rauschenberg, Jean Dubuffet, Yves Klein, Daniel Spoerri beeinflussen sie und natürlich Jean Tinguely, den sie seit 1956 kennt und mit dem sie 1962 nach Kalifornien reist, um auch dort Schießaktionen zu veranstalten.
» 1961 schoss ich gegen Daddy, gegen alle Männer, gegen alle, gegen die Gesellschaft, gegen mich selbst«. Niki de Saint Phalle bezeichnet ihre Kunstform als Krieg ohne Opfer: »Instead of becoming a terrorist, I became a terrorist in art.« Die Schießbilder stehen im Zusammenhang mit den persönlichen Gewalterfahrungen der Künstlerin und sind im Kontext des Gewaltklimas der 60er Jahre zu sehen. »Ihre Kunst ist manchmal humorvoll und fröhlich, aber sie ist auch düster, brutal und verstörend«, so Becker.
Der erste Teil der Retrospektive widmet sich dieser Seite und zeigt frühe Werke und beeindruckende Relikte der Schießaktionen. »Am Anfang ihrer Karriere ist Niki de Saint Phalle selbstbewusst und selbstständig in eine Männerwelt eingestiegen und hat dort Kunst gemacht ohne vordergründig politisch zu sein. Die Emanzipation ist ein Phänomen der 70er Jahre«, erklärt Becker und meint weiter: »Sie hat ihre Rolle als Frau nicht in einem opportunistischen Sinne bedient. Das macht im Kern ihre Unabhängigkeit aus. Eine Frau im 20. Jahrhundert, die Kunst macht, weil sie Künstlerin sein will. Was die Kunst betrifft, so kann Saint Phalle dann schon feministisch sein.« Nicki de Saint Phalle ist nicht affirmativ; sie zeigt Brüche, Abgründe, Ängste, Neurosen. Sie traut sich zu zeigen, was man nicht unbedingt als Stärke auslegt. Dieser kuratorischen Aufgabe stellt sich das verantwortliche Team im Zuge der Konzeptionierung der Retrospektive. »Dass sie so mit ihrer Furcht umgeht, hat etwas Eindrucksvolles. Sie hat es sich erlaubt und als eine Selbstverständlichkeit genommen. Von den kleinen Formaten, die etwas Intimes verkörpern, hin zu den monumentalen Bildwelten, bei denen sie sich innerhalb der Collage als Technik bewegt, versteht sie es eine Bildwelt zu entdecken, eine Ausdrucksform, die Aktionskunst ist, aber zugleich weit darüber hinausgeht«, führt der Kurator aus. Diese Suche nach Freiheit und Offenheit verleitet Niki de Saint Phalle auch dazu, die Öffentlichkeit, das Publikum, einzubinden. Dazu gehört viel Kraft, erfahren wir von Christoph Becker: »Sie gibt das Gewehr aus der Hand und bittet das Publikum, auf ihr Bild zu schießen. Das ist ein singulärer Vorgang in der Kunstgeschichte. Sie entäußert sich. Das ist eine starke Haltung.«
Als Niki de Saint Phalle erkennt, dass sie süchtig nach dem Schießen wird, folgen ein kalter Entzug und die Metamorphose: »Von der Provokation zog ich mich in eine innere, weiblichere Welt zurück. Ich fing an, Bräute, Herzen, Gebärende, Huren zu machen, verschiedene Rollen, die Frauen in der Gesellschaft haben können.« Inspiriert durch die Schwangerschaft ihrer Freundin Clarice Rivers, beginnt die Künstlerin 1965 ihre »Nanas« zu entwickeln, die sie anfangs aus Maschendraht, Pappmaché, Wolle und Stoff fertigt. Der Gestus des Handwerklichen ist deutlich erkennbar, der in den später aus hartem Polyester produzierten Plastiken verloren geht. Mit den Nanas setzt de Saint Phalle schon lange vor der Frauenbewegung ihre persönliche Befreiung in feministische Kunst um – in Kunst, die die Frauen, ihre Präsenz und Stärke bewusst in den Mittelpunkt stellt. Zugleich bedeutet es aber nicht die vollständige Abgrenzung von den Männern, sondern immer auch die Rivalität: »Ich werde die größten Skulpturen meiner Generation machen. Größer. Höher und stärker als die der Männer.« Und die Konfrontation: »Die Männer in meinem Leben, diese Bestien, waren meine Musen; das Leiden davon zehrte viele Jahre meine Kunst – ich danke ihnen.« »Ich habe mich oft gefragt, warum in meinen Arbeiten so wenige Männer vorkommen. Wenn sie nett sind, dann sind sie Tiere und Vögel; sind sie grässlich, dann sind sie Monster.« An der Expo 1967 in Montreal glänzen de Saint Phalles voluminöse Nanas neben Tinguelys Maschinen. Gemeinschaftsarbeiten bleiben auch in den nächsten Jahrzehnten eine von ihr bevorzugte Praxis – so wie das Gr 5 oßprojekt »Tarotgarten«, das ab 1978 in der Toskana entsteht. Die Retrospektive veranschaulicht anhand von Modellen und Fotos die Größe des Projekts und die Ambition seiner Schöpferin. »Manchmal kann sie sehr erratisch sein«, so Christoph Becker, »aber in diesem Erratischen wird sie nie starr. Sie sucht immer nach Bewegung und nach Raum. Man kann ihre bildhauerischen Werke betreten, sie wohnt selbst in ihren Kunstwerken, die dadurch ein Zuhause werden. Vielleicht sehnen sich die Menschen auch gerade nach dieser Freiheit, die sie verkörpert. Viele Besucher:innen bewundern ihre Art und Weise, nicht angepasst zu sein.«
Als Niki de Saint Phalle am 21. Mai 2002 stirbt – eine Grunderkrankung und die langjährige Verwendung giftiger Materialien wie Polyester und Glasfaser in der Kunstproduktion führen zu einem tödlichen Lungenemphysem –, sind ihre Nanas zu einem Markenzeichen geworden. Dass sie trotz Krankheit und psychischer Zerrissenheit auf ein sinnerfülltes Leben zurückblicken kann, führt sie in »Traces. Eine Autobiographie, Remembering 1930–1949« auf folgenden Umstand zurück: »Die Illusion ist weg! Die Kunst war immer mein bester Freund. Ohne sie wäre ich schon lange an gebrochenem Herzen gestorben.« Dass Niki de Saint Phalle auf ihrem Weg mit ihrem besten Freund der Kunst stets innovativ, mutig und unabhängig bleibt, zeigt diese Retrospektive. Im stützenlosen Ausstellungssaal sind halboffene Räume, innen teils dunkelblau, teils weiß ausgekleidet, frei auf der Fläche verteilt. Dazwischen bewegt sich das Publikum wie in einem Dorf um einen Platz herum. Auf zahlreichen Fotografien tritt Niki de Saint Phalle den Betrachter:innen entgegen. »Sie war sehr extrovertiert, auch um ihre Ängste zu kompensieren. Sie setzt sich gerne selbst in Szene, vielleicht auch um zu beweisen: ‚Ich kann das.‘ Sie spielt, inszeniert, will die Kontrolle über sich. So gesehen ist sie auch den Betrachter:innen gegenüber autoritär«, führt Becker aus. In der Ausstellung sind auffällig viele Texte, die die Künstlerin über ihre Kunst geschrieben hat. Dem Publikum werden dadurch ungewohnte und persönliche Perspektiven auf ihr Werk eröffnet, denn vieles von dem, was Niki de Saint Phalle schuf, ist weder vordergründig noch groß und bunt.
Der Artikel ist in der Print-Ausgabe 4.22 AFFINITY erschienen.
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